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Urban Landscape
04. September 2020

Welche Perspektiven gibt es für das Landleben im 21. Jahrhundert?

Der Berliner Journalist Frederik Fischer hat mit befreundeten Architekten und Kreativen ein Projekt gegründet, mit dem er Städter aufs Land locken will: mit Coworking-Spaces und Kulturprogramm in eigens gebauten Siedlungen in bereits bestehenden Dörfern

Das Problem beschäftigt seit langem die Stadtplaner: Immer mehr Menschen ziehen vom Land in die Stadt, weil sie nur dort einen adäquaten Job finden, weil sie dem Leben in der Provinz entfliehen wollen, weil die Stadt in punkto Kultur- und Freizeitangebot einfach viel mehr zu bieten hat. Gleichzeitig vermisst man jedoch das idyllische und weitgehend stressfreie Leben auf dem Land – und beklagt die überteuerten Mieten in der Stadt.

Aber mit der Corona-Pandemie findet auch hier ein Umdenken statt. Vor Corona galt: Die Städte werden immer weiter wachsen während die Dörfer schrumpfen. Aber durch Corona hat die Stadt viel an Reiz verloren. Gibt es eine Möglichkeit, Stadt und Beruf voneinander zu entkoppeln? Wie kann man mehr Menschen dazu bringen, aufs Land zu ziehen und damit die Städte zu entlasten? Wie kann man das Leben auf dem Land für Städter attraktiver machen?

Der Berliner Journalist Frederik Fischer hat mit befreundeten Architekten und Kreativen ein Projekt begründet, mit dem er trotz der Vorurteile Städter aufs Land locken will: in eigens gebauten Siedlungen in bereits bestehenden Dörfern. KoDorf nennt Fischer sie, eine Wortschöpfung, die an Coliving, Coworking und ländliche Idylle erinnern soll. Jedes Kodorf soll aus 50 bis 150 kleinen Häusern bestehen, in die bis zu vier Personen passen. Dazu kommen mehrere Gemeinschaftsgebäude, wie Coworking-Spaces, Gemeinschaftsküchen, Kinos, Bars, Restaurants oder Clubs.

Welche Perspektiven gibt es für das Landleben im 21. Jahrhundert? Frederik Fischer ist da sehr optimistisch. In seinem Projekt versucht er vor allem Kreative davon zu überzeugen, aufs Land zu ziehen: „Das Beste aus allen Welten lässt sich gut kombinieren.“ Viele Leute leben nicht deswegen in der Stadt, weil sie dort unbedingt wohnen wollen, sondern weil sie der Beruf an die Stadt gebunden hat. „Da merken wir eine Entkoppelung und das führt dazu, dass viele Menschen diese Frage des Wohnortes neu bewerten.“

Fischer sieht das Potential für sein neuartiges Konzept vor allem im Großraum um Berlin: „Die Gemeinde Wiesenburg, eine Stunde von Berlin entfernt, ist der Standort für das erste KoDorf. Jetzt geht es darum, eine ausreichende Zahl an Käufern für das Grundstück und die Häuser zu finden. Das sollte in den nächsten zwei Monaten der Fall sein, das Interesse ist hoch. Realistisch ist, dass die neuen Besitzer dann in zwei Jahren einziehen können. Bei zehn weiteren Grundstücken sind wir in der Verhandlung mit Gemeinderäten, Bürgermeistern und Landkreisen. Wichtig ist, dass das Projekt zur Region passt und von den Menschen vor Ort mitgetragen wird.“

Deshalb ist die Suche nach dem optimalen Standort für Fischer von zentraler Bedeutung: „ Das Gelände sollte nicht weiter als zehn Kilometer vom nächsten Bahnhof entfernt sein und eine gute Anbindung in eine Großstadt haben. Ganz ohne so eine Nabelschnur in die Großstadt wird es auch schwierig, weil dort natürlich weiterhin die Freunde, die Netzwerke sind. Außerdem sollte das Grundstück nicht kleiner als 1,5 Hektar sein, wobei wir in Wiesenburg schon eine Ausnahme gemacht haben. Da ist es etwa ein Hektar groß, aber es liegt direkt am Bahnhof. Auch soll das Grundstück schön aussehen, es muss dort eine gute Stimmung entstehen. Und es sollte ruhig liegen, Lärm ist ein Ausschlusskriterium.“

Mit den KoDörfern will er hauptsächlich Digitalarbeiter ansprechen, die von überall arbeiten können, aber auch Familien und ältere Menschen, mithin also alle, die bereit sind, ihren Erstwohnsitz anzumelden und dort richtig zu wohnen. Die Häuser sind sehr klein. Ziel ist, dass die Menschen sich tagsüber in den Gemeinschaftsgebäuden aufhalten. Sie sollen das Leben in der Gemeinschaft und auch mit den anderen Dorfbewohnern aktiv mitgestalten. Durch die Mischung aus privatem Rückzugsort im eigenen Haus und niedrigschwelligen Zugang zur Gemeinschaft, bleibt es den Bewohnern selbst überlassen, wie sie ihre Zeit auf dem Land nutzen wollen. Konzentriertes Arbeiten ist so im eigenen Garten ebenso möglich wie im Coworking Space. Kochen kann man am eigenen Herd oder gemeinsam mit anderen in der Gemeinschaftsküche. Eine App macht es möglich, diese und ähnliche Aktivitäten zu koordinieren und Räume zu buchen.

Die Erfahrungen von Städtern mit dem Home Office könnten nach dem Motto: „Raus aus den Städten und zurück aufs Land“ einen Trend zur Landflucht auslösen. Die Provinz wird schließlich für eine wachsende Zahl von Menschen zum Sehnsuchtsort — zum Refugium, in dem man Kraft tanken, die Natur genießen und sich bauliche Qualität noch leisten kann. Die Kodörfer beleben die ländliche Region. Sie schaffen Arbeitsplätze und bereichern das kulturelle und gastronomische Angebot vor Ort. Einige der Grundstücke liegen in Brandenburg, andere in Südwestfalen. Dort gibt es attraktive Arbeitgeber. Doch diese Firmen haben enorme Probleme, Fachkräfte zu finden. Vor Ort fehlt eine gute Infrastruktur für junge Menschen. Deshalb ist die Region sehr interessiert an KoDörfern. Weitere KoDörfer in Baden-Württemberg und Hessen sind in Planung. In Wittenberge wurde ein Coworking Space gestartet, der 20 Großstadt-Kreativen ein halbes Jahr Probewohnen und Coworking auf dem Land ermöglicht. Nach dem erfolgreichen Start in Wittenberge wird das Programm 2021 in Homberg und Altena fortgesetzt.

Text: Martin Miersch

Frederik Fischer ist freier Technologie-Journalist, Transformationsberater und Mitgründer der KoDorf-Bewegung. Mehr zu den deutschlandweiten KoDörfern gibt’s hier.

Titelbild: „KoDörfer gehen weit über die Trendthemen Coworking und Coliving hinaus“, erklärt Frederik Fischer. „Sie ebenen den Weg für einen Lebensstil, der auf breiter Basis populär werden könnte, wenn sich neue, flexiblere und ortsunabhängigere Arbeitsmodelle durchsetzen.“ Foto: Martin Grommel
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