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Urban Landscape
02. Mai 2020

Was wir von den Kulturtechniken indigener Völker lernen können

Die New Yorker Landschaftsarchitektin Julia Watson untersucht in ihrem Buch „Lo-TEK“ traditionelle Gestaltungskonzepte, die auf die Umwelt mit nachhaltigen Infrastrukturen reagieren

Bereits die Antike hatte Tipps für Reiseliebhaber parat, etwa die hängenden Gärten der Semiramis oder die Pyramiden von Gizeh. Heute empfehlen ambitionierte Reiseführer die Reisterrassen auf Bali als Update früherer Weltwunder. Die Landschaftsarchitektin Julia Watson hält diese Sichtweise für längst überholt: Zukunftsweisende Technologien und Konstruktionen müssten in den Vordergrund rücken. Ein Allheilmittel gegen den drohenden Planetenkollaps seien sie aber nicht.

Watson favorisiert vielmehr eine Rückbesinnung auf altbewährtes ökologisches Wissen, was nicht heißt, dass sie moderne Errungenschaften über Bord werfen möchte. Es geht ihr um das Hinterfragen des Bekannten und die Ergänzung durch fremde Kenntnisse. Grund genug, um eine eigene Liste studierwürdiger Architekturen aufzustellen, erbaut von Kulturen, die immer noch aktiv sind und es geschafft haben, ihre Traditionen gegen den Einfluss von außen, etwa eine zunehmende Verstädterung, zu bewahren.

Sieben Jahre ist es her, dass Watson mit der Erstellung einer Lo-TEK-Sammlung angefangen hat. Aufgewachsen ist sie in Australien. Ihr Studium absolvierte sie erst an der Universität von Queensland, später in Harvard. Ihr heutiger Wohnort ist New York, wo sie an der Columbia University unterrichtet und ein eigenes Design Studio unterhält. Einige der von ihr beschriebenen Fälle wurden inzwischen von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. In ihrem reichlich mit Grafiken, Landkarten, Illustrationen und Fotografien der Verhältnisse vor Ort bestückten Buch „Lo-TEK, Design by Radical Indigenism“, das 2019 bei Taschen erschien, legt sie den Focus auf gut zwei Dutzend von mehr als hundert Beispielen, verteilt über den Globus, überall dort, wo sich Einheimische an die Eigenarten der jeweiligen Landschaft angepasst haben, mit Hilfe von Methoden, die als nachhaltig zu betrachten sind. „Ich versuche, den Blick auf etwas zu lenken, was bisher oft übersehen und meist nicht einmal als schützenswert empfunden wird“, erklärt Watson. „Wir bewahren die Pyramiden, während die Kultur der Ma’dan bedroht ist und ihr traditionelles Knowhow in Vergessenheit gerät.“

Wie haben die Ma’dan im Irak schwimmende Inseln bauen können, in einer Region, in der die Flüsse Euphrat und Tigris aufeinandertreffen? Watson fand heraus, dass diese Marsch-Araber seit Jahrtausenden eine halbnomadische Lebensweise bevorzugen und sich auf eine Architektur aus Schilf und Schlamm spezialisiert haben. Sie kommen mit einfachsten Werkzeugen und nachwachsenden Rohstoffen aus, vielleicht, weil sie erst gar nicht versuchen, ihre schwimmenden Inseln für die Ewigkeit zu bauen. Trotzdem wurde das Marschland in den 1990er Jahren trockengelegt. Die Ma´dan mussten weichen, kehren aber inzwischen wieder zurück.

Auch die Aquakultur am Rande von Kalkutta ist bedroht. Das aufbereitete und gereinigte Abwasser wird hier zur Fischzucht benutzt, indem es eine Plankton- und Algenblüte fördert. „Solche funktionierenden Technologien müssen wir studieren“, meint Watson, „sie können uns in Zukunft sehr nutzen, denn unsere Welt, wie wir sie kennen, verändert sich. Nichts und niemand bleibt davon unberührt“. Holland oder Dänemark etwa, die mit steigendem Meeresspiegel zu kämpfen haben, sollten deshalb das Wasser hindurchfließen lassen, statt Wälle aufzustellen.

Neugierig schaut Watson auf indigene Kulturen und deren langwierige Beobachtung der Natur, studiert ihre Lebensweise und gibt ihr Wissen an ihre Studenten weiter. „Sie sollen unter die Oberfläche schauen. Mit frischem Blick. Studenten sind jung und noch eher bereit, gegen den Strich zu denken und die üblichen Grenzen der Architektur hinter sich zu lassen, das Herkömmliche“, sagt die gerade mal 42-jährige Designerin und Architektin. Wenn mexikanische Waldgärten etwa den „Milpa“-Zyklus nach Tradition der Maya beachten, dann liege darin auch eine Schönheit, die gute Architektur auszeichnen sollte. An die Brandrodung schließen sich Jahre des Wechsels von Mais, Bohnen und Kürbis an. Dann folgen Bananen und Papaya, später Avocado, Mango, Zitrusbäume, Cherimoya und Guave. Im Finale sind die Harthölzer dran. Dass Watsons Buch den Zusatz „Design by Radical Indigenism“ trage, heißt nicht, dass ländliche Technologien ins urbane Leben integriert werden sollen. Es gehe nicht darum, in Amsterdam und San Francisco Waldgärten oder Reisfelder anzubauen.

Hightech sei aber trotzdem nicht die einzige Option, die überhandnehmenden Probleme zu lösen. „Es lohnt sich alles zu überdenken“, glaubt sie, „andere Wege zu finden und Methoden zu kombinieren.“ Warum nicht auf den Ansatz zurückgreifen, der im indischen Bundesstaat Meghalaya seit Generationen kultiviert wird? Aus Gummibäumen und deren Luftwurzeln werden über Jahrzehnte lebende Brücken und Leitern konstruiert, die selbst das Wüten des Monsunregens überstehen. Bei den Massai in Kenia und Tansania bestehen die Hütten aus Lehm, Ästen und Gräsern, die Zäune aus Kampferbusch und Akazie. Warum sollte sich diese botanischen Architekturen nicht in unsere urbanen Welten verpflanzen lassen? Zumal, wenn sie sich in ähnlichen Klimazonen befinden? Oder diese bereits in zwanzig Jahren zu erwarten sind? Auch wenn biologische Konzepte weniger gut planbar sind und mehr Zeit benötigen, lohne es sich, sie als Alternativen in Betracht zu ziehen, um mehr Grün in Städten und an den Fassaden zu generieren, trotz Aufwand, Mehrkosten und nötiger Pflege.

„Meist überzeugen bei solchen Projekten nicht die ästhetischen, ökologischen oder wissenschaftlichen Argumente“, glaubt Watson. Die Entscheidungen werden aus politischen Gründen gefällt. Deshalb sollten sich Regierungen zusammentun und dafür sorgen, dass nachrückende Entwicklungsnationen die Fehler der Industrieländer hinter sich lassen, in „Symbiose mit unserem Planeten“.

Julia Watson, Lo-TEK. Design by Radical Indigenism, Köln 2019, 420 S., 40 Euro

Text: Alexandra Wach

Titelbild: Die New Yorker Landschaftsarchitektin Julia Watson favorisiert in ihrem Buch „Lo-TEK“ eine Rückbesinnung auf altbewährtes ökologisches Wissen: Im Fokus stehen das Hinterfragen des Bekannten und die Ergänzung durch fremde Kenntnisse. Foto: Taschen / Köln
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