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Architecture
21. Januar 2020

Die Platte wird 50

Der Bausatz WBS 70 ist der Prototyp des ostdeutschen Plattenbaus. In den 1970ern entstanden moderne Neubauviertel, die in der DDR Inbegriff für attraktives Wohnen waren. Erst mit dem Mauerfall wurden sie als „Arbeiterschließfächer“ geschmäht. Zu ihrem 50. Geburtstag feiert die Platte ihr Comeback

Friedrichshain vor 50 Jahren: Das heutige Szeneviertel war Anfang der 1970er ein grauer und baufälliger Stadtteil in Ostberlin – vielen Altbauten, die zwar elegante hohe Decken und prächtigen Stuck hatten, aber ansonsten keinerlei Annehmlichkeiten boten: Die Toiletten waren im Hof, im rauen Berliner Winter versuchte der einzige Kohleofen in der Wohnung vergeblich Familien zu wärmen. Eine Wohnung in einer der modernen Neubausiedlungen wie in Marzahn erschien daher paradiesisch.

Anfang der frühen 1970er Jahre in der DDR ziehen immer mehr Menschen in die Städte, um Arbeit zu finden. Doch auch noch über zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele Altstädte marode und zerstört. Der Bedarf an günstigem Wohnraum ist enorm. Die DDR-Regierung beschließt daher, mit flächendeckenden Neubauten ein Vorzeigeprojekt für den ‚Sieg des Sozialismus‘ zu schaffen. Plattenbauten aus vorgefertigten Beton-Fertigteilen sollen die Wohnungsnot lindern und möglichst wenig kosten.

Nach einigem Experimentieren wird ab 1970 die Wohnungsbauserie WBS 70 entwickelt. Der WBS 70 ist der Prototyp für die Platte neben den Modellen P2, Q3A und QP64. Die vorgefertigten Betonwände werden nach einem Grundschema von 1,20  mal 1,20  Meter im Baukastensystem zusammengefügt und mit tragfähigen Strukturen kombiniert. Das senkt die Kosten und beschleunigt die Bauarbeiten beträchtlich. Wenn die Fundamente gegraben sind, dauert der Bau einer Wohnung gerade mal 18 Stunden. Ganze Siedlungen entstehen so in nur wenigen Monaten. Und die Gebäude können in sehr kurzer Zeit fünf, sechs oder sogar elf Stockwerke in die Höhe wachsen. Auf diese Weise werden 650.000 Wohnungen für stolze 200 Milliarden DDR-Mark errichtet. Das gigantische Projekt verbessert für weite Teile der Bevölkerung die Wohnsituation und die Platte prägt wie kein anderer Wohnungstyp das Stadt- und Landschaftsbild der DDR.

Trotz ihrer Monotonie war die Platte für die DDR-Bürger Inbegriff attraktiven Wohnens. Harald Engler vom Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung in Erkner erklärt das so: „Die Wohnungen waren auf modernstem Stand. Müllschlucker, Fernwärme, gut geschnitten, gut beleuchtet. Es gab relativ große Abstände zwischen den Gebäuden. Das heißt, da war auch viel Luft und viel Freiraum, zum Beispiel für Kinder. Die Leute sind gern da eingezogen, weil sie aus Altbauten kamen, die das nicht bieten konnten. Wo es reingeregnet hat oder nicht dicht genug war, wo man mühsam heizen musste.“

Viele DDR-Bürger tragen sich jahrelang auf Wartelisten ein, um eine der begehrten Unterkünfte ergattern. „Das war ein Glücksmoment für die Leute“, erläutert Harald Engler. Man stelle sich das vor: Ein Bad mit Toilette und Badewanne in der Wohnung, eine moderne Einbauküche, Zentralheizung. Alle zwei oder drei Wohnblöcke gab es einen Kindergarten, einen Arzt und einen Lebensmittelladen. „Deshalb gibt es auch viele emotionale Bindungen an diese Neubauwohnungen. Das ist für sie ein Teil Identität und Sozialisation – was man von außen so nicht begreifen kann, wenn man es nicht selbst erlebt hat“, sagt Harald Engler.

Aber dann fiel die Mauer. Und die Platte, in der es sich zu DDR-Zeiten zufrieden und glücklich gelebt hatte, wurde von den Wessis spöttisch verlacht. Die Plattenwohnungen erhielten so schmeichelhafte Bezeichnungen wie „Arbeiterschließfach“ oder „Wohnklo mit Kochnische“. Nach der Wende wurden die Plattenbauten im Rahmen eines groß angelegten Sanierungsprogramms renoviert. Dadurch hat sich das negative Image der Plattenbauten geändert. Heute ist das Wohnen in der Platte auch bei jungen Leuten wieder angesagt. Denn in erste Linie ist es preisgünstig – so lange man nicht in einer „Edelplatte“ wohnt: Da ist nämlich nicht nur die Aussicht aus den oberen Stockwerken unbezahlbar.

Text: Marie Annette Laufer

Berlin-Marzahn mit verschiedensten WBS-70-Bauten, 1985. Foto: Bundesarchiv Bild, 183-1985-1219-021/CC-BY-SA
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