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Urban Landscape
30. August 2020

Wann wurde leise, unauffällig und angepasst zum Normalzustand?

Der deutsche Soziologe Hans Paul Bahrdt beschrieb die europäische Stadt auch als Schritt weg von der unkultivierten Natur. Hin zum Kultivierten – hin zum Kulturellen? Dieser Gedanke deckt sich mit dem Bild des Städtischen als Kumulation von heterogenen (Sub)kulturen. Dieses Bild wird oft reproduziert, ohne dass es heute allerorts Realität wäre. Vielmehr ist zu beobachten, dass die vielbeschworene vibrierende, durchmischte und dichte europäische Stadt schon seit einigen Jahren mit gegenteiligen Entwicklungen zu kämpfen hat. Gentrifizierung und Homogenisierung, sterbende Innenstädte und Verdrängungsprozesse sind die Realität. In München formiert sich dagegen Widerstand. Sie fordern: Mehr Lärm für München.

Raum in der Stadt zu finden ist nicht mehr so einfach. Was schon dem Individuum bei der Wohnungssuche schwerfällt, sieht für Kulturschaffende, Musiker und Künstler der Stadt nicht anders aus. Für Subkultur scheint in München kein Platz mehr zu sein. Luxussanierungen und darauffolgende leerstehende Geschäftsräume für stilles Gewerbe bedrohen die Lebensqualität in der Stadt.

Wann wurde leise, unauffällig und angepasst zum Normalzustand? Warum ist das Bedürfnis nach Ruhe dem von Ausgelassenheit und Freude stets vorangestellt? Was legitimiert das eine und kriminalisiert das andere? Diese Frage stellt sich bereits seit 2011 die Initiative MEHR LÄRM FÜR MÜNCHEN.

Alles begann 2011 mit der Schließung der Schwabinger 7 nahe der Münchner Freiheit – einem Ort, wo sich bis dahin Kunst, Kultur und ein reges Nachtleben etabliert hatten. Stattdessen errichtete ein Hamburger Investor Luxuswohnungen und Einzelhandelsflächen. Unruhe war nach 22 Uhr eher ungern gesehen. Als LOBBY FÜR DEN LÄRM positionierte die Initiative sich gegen die Stilllegung kultureller Räume. Die Initiative forderte von Bund und Land, den Städten mehr Gestaltungshoheit in der Stadtplanung zuzugestehen, um lokale Bedürfnisse über Großinvestorenprojekte zu setzen. Leider ohne Erfolg.

Das Problem bleibt aktuell. Und die Forderungen der Initiative verstummen nicht. In den Entwicklungen um die ehemaligen Heizkraftwerke Feilitzschstraße und Müllerstraße oder die Villa an der Muffathalle intervenierten sie erneut. Ihr Vorschlag: Leerstehende Immobilien in der Stadt für einen symbolischen Betrag Kreativen zu überlassen. Auf die Demonstrationen im Jahr 2011 folgten die sogenannten Krachparaden 2014, 2016 und 2017. Ausgelassene und fröhliche Protestzüge, um darauf hinzuweisen, dass die Stadt und der öffentliche Raum allen gehören. Was mancher als bloße „Feierwut“ abtun mag, trifft durchaus einen wunden Punkt der Stadtentwicklung. Die Gleichmachung von ganzen Stadtvierteln und die Privilegierung der Wohlhabenden sind Realität.

Die Lage spitzte sich durch die COVID 19-Pandemie nochmals zu. Auch wenn es guten Grund gab, Veranstaltungsbetriebe zu schließen, bringt es doch das kulturelle Leben zum Erliegen. Unter dem Slogan „Abstand halten – weiter raven!“ organisiert die Initiative deshalb nun seit einigen Monaten pandemiekonforme Tanzdemonstrationen im öffentlichen Raum. Denn laut WHO schließt Gesundheit auch den psychischen Gemütszustand mit ein. Die Veranstaltungen sind vom KVR genehmigt, die Teilnehmenden sind angehalten Mundschutz und Abstandshalter zu tragen – die Einhaltung von Hygienemaßnahmen und Risikominimierung wird großgeschrieben. Zuletzt kamen am Freitag, den 21. August 2020 rund 500 Müncher*innen zur mobilen Demo zusammen.

Nun werden in München Alkoholverbote im öffentlichen Raum diskutiert, um die steigenden Fallzahlen zu begrenzen. MEHR LÄRM FÜR MÜNCHEN sieht das kritisch und wünscht sich langfristige Lösungen statt kurzfristiger Verbote:

„Wir denken, dass ein Alkoholverbot in der Öffentlichkeit die Symptome eines Problems bekämpft, nicht die Ursache. […] Die Gesellschaft unserer Stadt wird noch sehr lange mit den Folgen der Covid-19 Pandemie zu kämpfen haben. Daher müssen langfristige Lösungen gefunden werden, um den Bedürfnissen der Menschen mit sinnvollen Maßnahmen entgegen zu kommen. Ein Alkoholverbot führt nur dazu, dass sich das Geschehen in geschlossene Räume verlagert, wo das Risiko der Ansteckung viel höher ist, oder an Plätze, die nicht so leicht kontrollierbar sind.“

Die Veranstaltenden betonen, dass es um beides geht: Den Menschen gerade jetzt Freude und Spaß zu bringen, und Kulturschaffende während der Pandemie zu unterstützen, aber auch generell ein Signal zu setzen: Für mehr Vielfalt und Gerechtigkeit in der Stadt München.

Text: Julia Treichel studiert im Master Landschaftsarchitektur an der TU München. Die Autorin entwirft bei Valentien+Valentien, pinselt diesen Sommer Straßen an mit raumzeug.de – und tanzt gerne gegen Gentrifizierung.

Titelbild: „Abstand halten – weiter raven!“ in München. Bild: Nadja Raabe
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