Wandernde Räume
„Migration verläuft ähnlich global wie Tourismus und bedingt sich teilweise sogar gegenseitig.“ Stefanie Bürkle muss es wissen. Sie und ihr Team analysieren im Rahmen des Kunst- und Forschungsprojektes „MigraTouriSpace, Raummigration und Tourismus“, wie Migration und Tourismus einander überlagern. Die Künstlerin, Stadtforscherin und Professorin für Bildende Kunst vertritt die These, dass mit den Menschen auch Räume wandern. So prägt zum Beispiel der aus dem Urlaub mitgebrachte touristische Blick oft auch die Wahrnehmung und Gestaltung des eigenen Umfeldes zu Hause. Das Projekt ist Teil des Sonderforschungsbereichs SFB 1265 „Re-Figuration von Räumen“ an der TU Berlin.
Als Case Studies hat Bürkle das vietnamesische Großhandelszentrum Dong Xuan Center in Berlin Lichtenberg und das deutsche Dorf Dogil Maeul in Südkorea ausgewählt – beides touristische Attraktionen, die weit über die Region hinaus bekannt sind. Mit einem interdisziplinären Team hat Bürkle an beiden Orten fotografiert, gefilmt und Gespräche mit den Menschen geführt. Im April eröffnet im CLB Berlin – Collaboratorium im Aufbauhausam Moritzplatz eine Ausstellung, in der die Interviewten zu Wort kommen.
Etwa Hans Iakonisch,der sich gemeinsam mit seiner koreanischen Ehefrau, die in den 1970er-Jahren als Krankenschwester nach Deutschland kam, in Dogil Maeul niedergelassen hat. Mit dem Lebensabend in warmen Gefilden und einem Haus mit Blick aufs Meer hat sich das Paar einen Traum erfüllt. Dennoch beklagen beide, sich sowohl der alten und der neuen Heimat entfremdet zu fühlen. Nicht nur zum dreitägigen Oktoberfest strömen Touristen aus den nördlicheren Landesteilen in das Dorf und lassen sich nicht von den zweisprachigen Schildern wie „Betreten verboten“ oder „Privatgrundstück“ abhalten. Viele Einwohner beklagen die mangelnde Privatsphäre, denn zahlreiche Besucher laufen durch die Gärten und betreten sogar die Häuser, wenn eine Tür geöffnet ist. Das deutsche Dorf war 2000 auf Initiative des Bürgermeisters von Namhae-gun entstanden, der den pensionierten koreanischen Gastarbeitern in einem Umfeld mit Walm- und Satteldächern ein „deutsches Ambiente“ bieten und darüber hinaus Touristen anziehen wollte.
Auch wer in Berlin-Lichtenberg das Dong Xuan Center, den größte Asia Markt Deutschlands, besucht, taucht in eine andere Welt ein. Die über 400 Händler kommen aus dem Vietnam, Indien, China, der Türkei und Pakistan. In den Geschäften finden sich Lebensmittel und Textilien, Lederwaren, Kurzwaren, Technik, Uhren und Schmuck. In den Restaurants werden teils Gerichte angeboten, die anders als in den zahlreichen asiatischen Restaurants der Hauptstadt keinerlei Konzession an den europäischen Geschmack machen. Die Besucherinnen und Besucher tauchen in eine Parallelwelt ein und wähnen sich in Asien. „Man fühlt sich wie in seiner Heimat“, bestätigt der 16-jährige Lion Nguyen. „Deswegen bin ich auch oft hier mit meiner Familie und mit meinen Freunden.“
Dem Medienphilosophen und Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser zufolge sind Migration und Remigration eine „schmerzhafte, aber auch ungemein kreative, produktive Situation“, in der es zu spannungsreichen Kultursynthesen, aber auch zu neuen Freiheiten kommt.
In diesem Sinne werden in der CLB-Galerie werden Mehrkanal-Videoinstallation die Besucher und Besucherinnen möglicherweise verwirren, doch auch die produktive Frage aufkommen lassen,wo sie sich gerade befinden. Zeigen die Orte Korea, Deutschland oder Vietnam? Die Schaufenster des CLB werden mit transluzenten Fotografien bedeckt. So entsteht ein spannender Dialog zwischen innen und außen. Ganz so, wie es vor der Tür sein sollte, im multi-ethnischen Kreuzberg mit seinen kulturellen Symbiosen und Parallelwelten.
Text: Inge Pett