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Urban Landscape
04. November 2020

Mit Collagen den öffentlichen Raum hinterfragen

Seit mehr als einem Jahr erscheinen zahlreiche feministische und aktivistische Botschaften an den Wänden von Paris und anderen Städten in Frankreich. Sie werden von der Bewegung der „Colleuxses“ plakatiert, eine AktivistInnenbewegung von beträchtlichem Ausmaß, die sich aus Frauen, Nicht-Binär- und Trans-Personen zusammensetzt

Ihr Ziel? Mit vielfältigen Collagen unter anderem Femizide und Ungleichheiten in unserer Gesellschaft anzuprangern:
„Black Trans Lives Matter“, „Wenn sie schläft, nennt man es Vergewaltigung“, „Lasst uns den Feminismus entkolonialisieren“, „1% der Vergewaltigungen werden von der Justiz bestraft“, „2019: 149 Frauenmorde“, „Free Oyghours“…
Durch eine einfache Vorgehensweise ist es vielen Personen, deren Stimmen von unseren vielen Medien häufig nicht übermittelt werden, gelungen, ihre Botschaft außerhalb der sozialen Netzwerken in den öffentlichen Raum zu tragen. Die Bewegung ist mittlerweile zur Stimme des „intersektionellen¹“ Feminismus geworden, wie die afro-feministischen oder LGBTQI+ Collagen.

Diese spontane Einnahme von Raum und Sprache wirft die Frage nach dem Platz auf, der traditionell Frauen, nicht-binären Menschen und BIPoC (Black, Indigenous, People of Color – ein amerikanischer Begriff für Menschen, die Rassismus erfahren) im städtischen Raum zugewiesen wird.

 

Eine männliche Stadtplanung

Illegitimität. Das ist das Gefühl vieler Menschen in einem öffentlichen Raum, in dem sie nicht zur Mehrheit gehören. Ob auf der Straße oder im Verkehr, die Stadt ist im schlimmsten Fall feindselig, im besten Fall gleichgültig gegenüber dem täglichen Leben vieler ihrer EinwohnerInnen.

So werden zum Beispiel zwei Drittel der für Kinder bestimmten Freizeiträume im Freien (Fußballplatz, Basketballplatz, Skateparks…) hauptsächlich von Jungen genutzt. Da diese Einrichtungen besonders teuer sind, erhalten die Jungen daher 75% des Budgets, das die Gemeinden für die Jugend bereitstellen².

Daher ist es leider nicht verwunderlich, dass so manches Mädchen schon von Kindheit an das Gefühl hat, dass sie in den Straßen nicht ganz dazugehört. Dieses Gefühl verschlimmert sich im Erwachsenenalter, vor allem in den Nachtstunden, wenn das Gefühl der Unsicherheit hinzukommt. Sie glauben mir nicht? Dann fragen Sie Frauen und nicht-binäre Personen in Ihrer Umgebung. Sie alle wenden Tricks an, um sich in ihrer Stadt sicher zu fühlen, vor allem während der Nacht. Es beginnt mit der Auswahl der Kleidung, mit einem maßvollem Alkoholkonsum, einen Schlüsselbund den man zur Verteidigung in der Hand hält oder die Tatsache, dass man lieber mit dem Taxi nach Hause fährt als auf die öffentlichen Verkehrsmittel zurück zu greifen

 

Gentrifizierung, ein diskriminierender Prozess

Darüber hinaus schließt die gegenwärtige Stadtplanung andere Minderheiten als die oben erwähnte aus, insbesondere durch das Phänomen der Gentrifizierung.

In ihrem Buch “The Gentrification of Minds, Witness to a Lost Imagination” erklärt die amerikanische Schriftstellerin Sarah Schulman, dass Städte schon immer Orte der Unterschiede waren. Seit jeher bestehen Städte aus Vierteln mit vielfältigen Kulturen, die die Grundlage neuer Dynamiken und Ideen bilden. Die gentrifizierte Stadt, die Stadt, die homogenisiert wird, verliert diese Dynamik. Alles was bleibt, ist die Wiederholung von Dingen, die wir bereits kennen. Ohne diversifizierte Städte kann sich die Gesellschaft nicht neu erfinden³.

Der städtische Raum versucht sich weiterzuentwickeln, aber die Entwicklung von Paris zeigt, dass Entscheidungen, die auf Gemeindeebene getroffen werden, nach wie vor viele Menschen ausschließen.
Durch die Gentrifizierung kommen jetzt junge Paare mit Kindern auf der Suche nach größeren und billigeren Wohnungen in ehemalig kosmopolitische Arbeiterviertel. Es handelt sich überwiegend um Weiße, die aus den wohlhabenden sozialen Schichten stammen. Sie konsumieren nur wenig in den bestehenden Geschäften und nehmen unbewusst an einer sozialen Aufwertung teil, die die Struktur und Kultur ihres neuen Viertels völlig verändert und nicht allen zugutekommt. Aufgrund steigender Mieten bleibt vielen Menschen keine andere Wahl, als Paris zu verlassen⁴. Dieses Phänomen des sozialen Separatismus macht die vielen Menschen, die unter mehreren Formen von Diskriminierung leiden, wie z.B. Rassismus erfahrenden LGBTQI+ Personen, noch unsichtbarer.

 

„Die Straßen zu besetzen, bedeutet die Stadt zu einem Ort der Emanzipation zu machen“

Unter den plakatierten Texten tauchen auch zunehmend die Stimmen von Menschen mit Behinderungen auf, die immer noch Schwierigkeiten haben, den öffentlichen Raum zu erleben.
Für alle die bei den Colleuxses mitmachen, bieten Collagen eine Möglichkeit, ihren Platz im öffentlichen Raum einzunehmen und sich der Mehrheit dort zu präsentieren, wo sie sie nicht erwartet.
PassantInnen sehen sich mit anderen Realitäten als denen ihres täglichen Lebens konfrontiert, ohne wegschauen zu können. Die Reaktion hängt von jedem einzelnen: Entweder wir stellen uns selbst in Frage, wir stellen unsere Privilegien, unsere Vorurteile, unsere Automatismen in Frage oder wir ignorieren oder nehmen Anstoß.

Abgesehen von der Wichtigkeit der vermittelten Botschaften stellt diese Raumaufnahme aber auch unsere Städtebaupolitik zutiefst in Frage. Wenn man als Gruppe die Straßen vor allem in den feindseligen Stunden der Nacht besetzt, macht man die Stadt zum Ort der Emanzipation. Dies bietet die Möglichkeit, sich aktiv am städtischen Raum zu beteiligen und sich damit einen legitimen Platz zu schaffen.
Die Colleuxses widersetzen sich der etablierten Ordnung, indem sie sich selbst das Recht auf Stadt einräumen.

¹ Intersektionalität beschreibt die Überschneidung und Gleichzeitigkeit von verschiedenen Diskriminierungskategorien gegenüber einer Person. (z.B. Schwarze Frauen, die gleichzeitig Rassismus und Sexismus erfahren)

² RAIBAUD, Yves La ville, faite par et pour les hommes : dans l’espace urbain, une mixité en trompe-l’œil

³ SCHULMAN, Sarah, The Gentrification of the Mind, Witness to a Loss, Univ of California Press

⁴ CLERVAL Anne u. VAN CRIEKINGEN Mathieu, La gentrification, une approche de géographie critique)

Text: Garance Copp hat von 2012 bis 2015 in Paris und Berlin Germanistik studiert. Seit ihrem Masterabschluss an der Universität Paris-Sorbonne in Übersetzung und interkultureller Mediation ist sie seit 2018 als freiberufliche Übersetzerin tätig. Für NXT A berichtet sie aus der französischen Hauptstadt.

Titelbild: "J'ai besoin de toi ma soeur pour faire la révolution", Meine Schwester, ich brauche Dich für die Revolution. In Paris und anderen französischen Städten plakatieren seit einem Jahr Aktivistinnen den Stadtraum mit feministischen Aussagen.
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