Let’s Talk: „Wieso ist denn auf einmal alles so kompliziert?“
Johannes (Name fiktiv) wünscht sich ein gemeinsames Coaching mit seiner Lebens- und Büropartnerin, weil, so sagt er, ihnen das sicher helfen würde. Ich frage: „Teilt Deine Partnerin Deine Sicht auf die Situation?“
„Ja, mittlerweile schon. Ich gebe aber zu, Julia (Name fiktiv) war erstmal nicht überzeugt von meinem Vorschlag, uns Hilfe zu holen. Also war klar, wenn ich das weiterverfolgen will, muss ich aktiv werden.“
Ich weise darauf hin, dass wir, bevor es zu einer Zusammenarbeit kommen kann, unbedingt ein weiteres Vorgespräch führen müssen, an dem auch Julia teilnimmt. Ein paar Tage später findet das Gespräch via Zoom zu dritt statt. Johannes schildert erneut die Situation, die sie beide, so sagt er, aus eigener Kraft nicht verändern können. Sie streiten sich ständig. Julia fühle sich überfordert, nicht ernst genommen. Johannes versucht, dem irgendwie gerecht zu werden, hat aber das Gefühl, egal was er macht, es wird alles nur schlimmer.
„Wir haben vor fünf Jahren unser eigenes Büro gegründet. Obwohl, das ist nicht ganz richtig. Julia hat das Büro gegründet und ich bin nach einem halben Jahr dazu gekommen. Wir waren dann auch Partner. Im ersten Jahr lief alles super. Wir hatten viel zu tun und haben fast alles zusammen gemacht. Gespräche mit Auftraggebern, Grundlagenermittlung, Vorentwurf, Entwurf usw. bis zur Leistungsphase 4, in Teilen auch bis zur 5. Ab der 6 bis zur 8 habe ich mich dann meistens gekümmert.“
Julia sagt zu Beginn des Gesprächs nichts. Sie kommentiert Johannes Aussagen vielmehr nonverbal, indem sie entweder den Stift in ihrer Hand eingehend betrachtet oder sich für einen Moment ganz aus dem Bild entfernt. Ich frage Julia nach ihrer Sicht auf die Situation. Stimmen die Versionen überein? Gibt es Variationen? Ist ihr Thema vielleicht ein ganz anderes? Julia bestätigt Johannes Version, mit einem Unterschied. Sie sieht nicht, dass er etwas tut, um seinen Beitrag zur Veränderung zu leisten. Ich erläutere, wie wir vorgehen, wenn beide das Coaching wollen. Wir werden zuerst Einzelgespräche führen, in deren Verlauf mir beide unabhängig voneinander die Situation schildern. Danach folgt das Gespräch zu dritt.
In den folgenden Einzelgesprächen gewähren mir beide tiefe Einblicke in ihre divergierende Sicht sowie ihre Gefühle – sowohl zur Bürosituation als auch füreinander. Es wird deutlich, dass Johannes im Laufe der Zeit eine zunehmend passive Haltung eingenommen hat. Sein Bestreben ist dennoch, Julia um jeden Preis zu unterstützen. Er sieht sich jedoch außerstande, eigene Entscheidungen zu treffen.
„Ich habe eigentlich nie so richtig das Gefühl entwickelt, Büropartner zu sein. Julia ist in allem viel schneller als ich, dafür aber weniger gründlich. Ich achte auch immer auf Wirtschaftlichkeit, obwohl auch ich nicht wirklich gut mit Zahlen bin. Sie hat immer total viele Ideen und will die auch alle umsetzen und setzt sich dafür ein und macht und findet kein Ende. Das wird auf jeden Fall geschätzt von unseren Auftraggebern, doch bezahlt wird es natürlich nicht. Das kann man ja gar nicht in Rechnung stellen. Das ist auch gar nicht so weit beauftragt. Ich halte mich da mittlerweile ziemlich bedeckt, bzw. ich versuche meine Arbeit in den Leistungsphasen 6-8 so effizient wie möglich zu gestalten. Und dann sind da ja auch noch die Mitarbeiter:innen. Ich kann das nicht so gut, also mit denen reden, wenn es um Befindlichkeiten und Zuständigkeiten und so geht. Julia hasst das auch, aber sie kann es einfach richtig gut. Also kümmert sie sich auch um Personalthemen und macht mir Vorwürfe, dass ich mich nicht kümmere. Ich verstehe das. Doch ich kann es nicht und das belastet mich. Ich will gemeinsam mit Julia einen Weg finden, der es uns ermöglicht, weiter zusammen zu arbeiten.“
Julia fühlt sich komplett in die Verantwortung genommen. Johannes abwartende Haltung löst Wut in ihr aus. Sie fühlt sich gefangen in einer Rolle, die sie als ständige Überforderung wahrnimmt.
„Es macht mich wahnsinnig, wenn ich ständig von Johannes zu hören bekomme, dass das so nicht geht, wie ich es mache. Wir streiten viel. Naja, streiten kann man das eigentlich nicht nennen. Das sieht eher so aus, dass ich mich aufrege und dann auch mal laut werde. Johannes zieht sich dann eher zurück. Oder – wie vor kurzem erst passiert- er will mir helfen und erreicht genau das Gegenteil. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem Mitarbeiter. Dann hat Johannes interveniert und den Mitarbeiter von sich aus angesprochen, der dann natürlich völlig verunsichert war, weil wir das Problem eigentlich ganz gut im Griff hatten nach unserem Gespräch. Als Johannes ihn dann zur Rede gestellt hat, nach dem Motto: ich sei ganz schön sauer gewesen und was er sich denn dabei gedacht hätte usw…. war das Chaos komplett. Ich weiß, dass er es gutgemeint hat. Fakt ist aber, das Ergebnis war verheerend. Wir kommen da irgendwie nicht raus aus dieser Abwärtsspirale. In meinen dunkelsten Stunden habe ich auch schon über Trennung nachgedacht. Einfach einen Cut machen. Doch eigentlich will ich das nicht. Aufgeben kommt in meiner Welt nicht vor. Auch wenn ich oft endlos genervt bin, ich will das gemeinsame Büro mit Johannes hinkriegen.“
In den Einzelgesprächen mit Johannes und Julia ist deutlich geworden:
- Aufgaben werden auf Zuruf übernommen bzw. deren Erledigung wird stillschweigend erwartet.
- Es gibt keine klar definierte Rollenverteilung.
- Es besteht auf beiden Seiten die Überzeugung, dass vieles nicht ausdrücklich gesagt werden muss, weil der/die Andere doch eigentlich wissen müsste, was man meint.
Daraus entstehende Konflikte werden grundsätzlich auf der Sachebene ausgetragen. Behandelt werden somit stets Symptome und nicht das zugrundeliegende Thema. Um das von beiden in unseren Einzelgesprächen formulierte Ziel erreichen zu können, gibt es nur einen nachhaltigen Weg und der führt weg von der Symptomebene zum zugrundliegenden Engpass, auch gerne Problem genannt.
Ich beginne also unsere Sitzung zu dritt nach unseren Einzelgesprächen, indem ich die Symptomebene verlasse – die mir beide ausführlich in unseren Einzelgesprächen dargelegt haben und von der ich mir durch Fragen und Feedback ein Bild machen konnte – und stattdessen den Fokus auf die systemischen Zusammenhänge lege.
„Ich würde Euch zu Beginn gerne eine Geschichte erzählen, wenn Ihr einverstanden seid.“
Beide nicken.
„Bevor ich meinen Beruf gewechselt habe, habe ich 14 Jahre lang als Architektin gearbeitet, die meiste Zeit davon war ich selbständig und die letzten acht Jahre habe ich in Partnerschaft mit meinem Mann gearbeitet. Als wir begannen, miteinander zu arbeiten, waren wir bereits seit 15 Jahren ein Paar und seit sieben Jahren Eltern. Wir brachten ganz unwillkürlich die aus diesem Kontext erwachsenen Rollen und Selbstbilder mit in den Bürokontext. Diese Rollen – und Selbstbilder aus dem Kontext Paar/Familie hatten allerdings im Bürokontext eine völlig andere, zum Teil verheerende Wirkung. Was wir damals erlebten war exakt das, was man den blinden Fleck nennt. Wir waren festgefahren in Mustern, die in unserer Paar – und Elternbeziehung durchaus Sinn hatten und funktionierten. Die Auswirkungen dieses blinden Flecks bekamen wir dann auch massiv zu spüren und zwar in beiden Systemen, dem der Familie und dem des Unternehmens. Was wir beide damals versäumt hatten war, unsere Rollen in unserem Büro zu definieren.“
Ich trinke einen Schluck Wasser und schaue abwechselnd Julia, dann Johannes an. Beide sind offensichtlich mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Wir schweigen eine Weile.
Dann sagt Julia: „Ja, das kommt mir alles irgendwie bekannt vor. Was mich noch interessiert ist, wie seid Ihr da wieder rausgekommen?“
Ich bin kurz unsicher, ob es hilfreich ist, den weiteren Verlauf meiner Geschichte zu erzählen. Dann erinnere ich mich an andere Situationen in Coachings, in denen ich von eigenen Erfahrungen, die zum Thema passten, erzählt habe. Es hilft meinen Klienten, wenn sie ihre Geschichte bildlich gesprochen neben meine Geschichte stellen und so Unterschiede oder Gemeinsamkeiten entdecken können. So entsteht ein Gefühl von Verbundenheit, das bei ihnen dazu führt, auch die Themen anzusprechen, von denen sie zu Beginn dachten, sie passen nicht hierher. Also fahre ich fort:
„Wir haben die Entscheidung, uns Hilfe zu holen, sehr lange hinausgezögert bzw. gar nicht daran gedacht. Als wir dann endlich soweit waren, uns einem Coach anzuvertrauen, waren wir beide an einem Punkt, an dem wir längst aufgegeben hatten. Wir haben uns getrennt, sowohl als Büropartner als auch als Lebenspartner.“
Julia nickt, als hätte sie mit genau dieser Antwort gerechnet. Johannes sieht mich betroffen an. Ich sage: „Das ist eine von vielen Möglichkeiten und sicher nicht das zwangsläufige Ergebnis. Es geht auch anders. Mich interessiert, wo Ihr Euch gerade seht.“ Julia schaut Johannes an.
„Soll ich?“ Johannes scheint erleichtert. „Also dann…Ich hab’s ja eigentlich schon erwähnt. Ich bin nicht wirklich an dem Punkt, an dem ich alles hinschmeißen will. Ich bin allerdings irritiert, weil der Gedanke doch immer mal wieder da ist. Ich sitze heute hier, weil ich nicht mehr weiterweiß und… Ich wollte es erst gar nicht so ausdrücklich zur Sprache bringen, aber ja, ich habe schon gedacht, das ist der letzte Versuch. Wenn wir jetzt mit professioneller Hilfe auch nicht weiterkommen, dann…Mir wird immer klarer, dass wir Struktur brauchen und wenn wir das hinkriegen, also Struktur im Büro, Klarheit über Zuständigkeiten usw. dann hat das Auswirkungen auf unsere private Beziehung, in der es zugegebenermaßen auch ganz schön kriselt.“ Johannes ist, während Julia redet, immer mehr in sich zusammengesunken. Ich frage: „Johannes, wie geht es Dir?“
„Ich weiß nicht. Mir wird glaube ich gerade klar, worum es hier geht. Ich habe mir so eine Art Pflaster gewünscht, das ich auf die Wunde kleben kann. Und ein Schmerzmittel irgendwie. Doch jetzt wird mir klar, das wird so nicht funktionieren. Ich find‘s gut, dass Du uns Deine Geschichte erzählt hast und ich habe zum Schluss gedacht, so soll das mit uns nicht ausgehen. Auf keinen Fall.“
„Und wie geht es Dir damit?“
„Ich war eben mal kurz total niedergeschlagen. Dann, während ich Dir geantwortet habe, hat sich etwas verändert. Ziemlich stark verändert. Krass! Ich war auf einmal zuversichtlich, fühlte mich lebendig irgendwie. Und gleichzeitig aber, das ist doch verrückt oder, habe ich Angst, dass es nicht klappt und schon werde ich wieder ganz müde. Wie kann es denn jetzt weitergehen?“
„Ich könnte Euch jetzt anbieten, damit zu beginnen, Eure Rollen zu definieren, Aufgaben zuzuordnen etc. Was ich aus unserem Gespräch mitnehme, ist, dass es nicht nur darum geht, Struktur in Euer gemeinsames Büro und in Eure Zusammenarbeit zu bringen. Darum geht es auch, sicher. Doch um diese Herausforderung angehen zu können, müssen Gefühle wie Enttäuschung, Erschöpfung, Ratlosigkeit, Wut und Überforderung, die Euch beide verständlicherweise nach wie vor fest im Griff haben, aufgelöst werden und an ihre Stelle dürfen Klarheit, Energie, Entschlossenheit und Freude treten.“
Julia atmet hörbar auf. „Das fühlt sich gut an. Doch wie machen wir das?“
„Damit Ihr beide wieder Freude in Eure Arbeit und Eure Beziehung bringen könnt, schlage ich vor, wir arbeiten gemeinsam erst einmal an den Themen, in denen Ihr das Verbindende zwischen Euch wiederentdeckt und herausfindet, was Eure gemeinsame Vision für Euer Büro sein kann. In einem weiteren Schritt findet Ihr heraus, welche Herausforderungen vor Euch liegen, wenn Ihr das Gemeinsame wiederentdeckt habt. Und damit wären wir, ohne dass es sich auch nur im Entferntesten nach Arbeit anfühlt, schon mittendrin in der Entwicklung Eures Büros, so wie Ihr es Euch gemeinsam vorstellt. Und erst wenn Ihr diese Schritte durchlaufen habt, reden wir über Rollen und Aufgaben. Wie klingt das?“
Johannes strahlt erst Julia und dann mich an: „Puh, ich bin jetzt echt erleichtert. Ich meine, ich war und ich bin entschlossen, Zeit und Kraft zu investieren, damit wir wieder Fahrt aufnehmen können. Doch ich hatte auch Bedenken, dass ich das kräftemäßig nicht hinbekomme.“
Julia nickt zustimmend: „Geht mir ähnlich. Ich finde, das klingt total verheißungsvoll. Aber wie genau machen wir das?“
„Wir machen es in einer Kombination aus schriftlicher Arbeit und persönlichen Gesprächen. Wir arbeiten an drei Themenbereichen. Wir beginnen, indem ich Euch einen erläuternden Einführungstext und ein Worksheet zu dem Thema „Mein Warum“ schicke. Das Worksheet bestehen aus einem Fragenkatalog, in dem es um Eure jeweilige Geschichte geht, die Euch zu Eurem Beruf geführt hat. Warum seid Ihr Architekten geworden? Was ist der rote Faden, der sich durch Euer jeweiliges Leben zieht? Was wollt Ihr in der Welt bewegen? Wozu wollt Ihr einen Beitrag leisten? Eure Antworten führen Euch zum zweiten Themenpunkt, den Ihr nach dem gleichen Muster bearbeitet. Ihr entwickelt eine gemeinsame Vision, mit der Ihr Mitarbeiter und Kunden anzieht, die zu Euch passen. Das dritte Thema beschäftigt sich mit den Herausforderungen, die vor Euch liegen, nachdem klar geworden ist, wofür Ihr steht und was Ihr gemeinsam anstrebt. Die zentrale Frage ist hier: Welcher persönliche Entwicklungsschritt steht jetzt an? Was ist dafür notwendig? Diese drei Themenschwerpunkte bilden die Basis für alles, was den nachhaltigen Erfolg Eures Büros und vor allem Eurer Zusammenarbeit ausmacht. Erst dann seid Ihr in der Lage, wirklich festlegen zu können, wer welche Rolle einnimmt und wer wofür verantwortlich ist.“
Julia steht auf: „Ich brauche jetzt mal einen Kaffee und dann muss ich unbedingt noch etwas loswerden.“ Während Julia sich den Kaffee holt, stehe auch ich auf und stelle mich ans Fenster. Johannes stellt sich neben mich. Wir reden nicht. Er wirkt zufrieden. Julia kommt zurück, wir setzen uns.
„Also. Ich bin jemand, der für alles eine Lösung finden will. Ich lasse mir ungern helfen, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass ich erstens schneller bin als die anderen, dass ich zweitens kreativer bin und … jetzt höre ich lieber auf, das klingt ja furchtbar selbstverliebt. Bin ich aber nicht. Das sind einfach meine Erfahrungen. Als Johannes mit der Idee zu mir kam, uns von Dir beraten oder coachen zu lassen, war meine erste Reaktion, ich brauche das nicht. Dann dachte ich, aber er braucht es und ich will nicht immer alles bestimmen müssen. Also habe ich zugestimmt und ich habe es Dir zuliebe getan.“ Dabei sieht sie Johannes an, dem augenblicklich die Panik ins Gesicht geschrieben steht.
„Nein, guck nicht so, um Himmels willen. Ich bin ja noch nicht fertig. Was ich sagen will…“
Sie macht es echt spannend.
„Also ich will Dir sagen, Anna, dass ich total dabei bin. Die Vorstellung, das ganze Ding gründlich zu betrachten, also, warum machen wir das überhaupt und so, das finde ich total spannend. Und ich denke jetzt, egal was dabei rauskommt, denn es könnte ja auch rauskommen, dass wir ganz unterschiedliche Visionen haben oder so, dann haben wir wenigstens Klarheit. Und bevor Du jetzt wieder panisch wirst, Johannes, ich glaube, das wird nicht passieren. Wir hatten doch gemeinsam Träume, wir wollten doch was bewegen. Das ist einfach in dem ganzen Stress untergegangen. So, das war’s. Das musste noch raus. Ach nein, noch was. Wann fangen wir an?“
Text: Anna Mehner