Heimbewohner besuchen, trotz Corona
Covid-19 offenbart, dass Menschen je nach demographischen, kulturellen oder räumlichen Charakteristiken unterschiedliche Verwundbarkeiten aufweisen. Darum sind Senioren mit Vorerkrankungen durch das Virus besonders gefährdet. Wie sich gezeigt hat, wurden Alten- und Pflegeheime zu zentralen Orten der Covid-19-Pandemie. Wenn etwa das Personal keine erforderliche medizinische Schutzausrüstung besass, kam es gehäuft zu Infektionen. Um die Ansteckung durch Besucher zu vermeiden, wurde in Deutschland am 16. März 2020 ein bundesweites Besuchsverbot über Altenpflegeheime verhängt. Anfang April kam eine Ausgangssperre für Heimbewohner hinzu.
Risikenminderung und Nebenwirkungen
Das Ziel dieser Massnahmen war, Senioren als Hochrisikogruppe zu schützen. Davon waren in Deutschland fast eine Million Heimbewohner betroffen. Auch hier sollte social distancing durch den räumlichen Abstand zu anderen Menschen das Risiko einer Ansteckung mindern. Die Folge waren jedoch ungewollte Nebenwirkungen. Zum einen konnten sich Angehörige nicht mehr um Verwandte im Heim kümmern, um ihnen etwa bei der Nahrungsaufnahme zu helfen. Zum anderen wurde befürchtet, dass die soziale Isolation zum seelischen Verfall führen könnte. Ausserdem ist nicht garantiert, dass alle Senioren ausreichend technikaffin sind, um über Internetmedien mit Angehörigen in Kontakt zu bleiben. Insbesondere bei Menschen, die durch Demenz beeinträchtigt sind, fällt dieser Umstand ins Gewicht.
Gute Stube zum Andocken
Auf die Frage, wie man trotz Kontaktverbot mit Heimbewohnern Kontakt pflegen kann, hat ein Schreinermeister aus Bad Säckingen eine handwerkliche Antwort gefunden: Reinhard Matt entwickelte ein kleines Häuschen, das an die Fassade eines Seniorenheims angedockt werden kann. „Vis á vis – Haus an Haus“ ist komplett abgeschlossen – und mit einer Tür, Sicherheitsglasscheiben sowie einem zweckmässig gehaltenen Innenraum versehen. Dabei wird die kleine Gute Stube nicht mit dem Gebäude verbunden, sondern lediglich vor ein Fenster gestellt. Somit lässt sie die Kommunikation mit Heimbewohnern über einen geschützten Bereich zu. Neben der visuellen Begegnung können sich Besucher und Bewohner mittels einer Gegensprechanlage unterhalten – die Abstandsregel wird dabei eingehalten.
Von der Idee zum Prototyp
Das Projekt wurde in Absprache mit der Heimaufsicht und dem zuständigen Gesundheitsamt entwickelt. Aus hygienischen Gründen dienen als Verkleidung Kunststoffplatten aus Recyclingmaterial, die sich leicht reinigen lassen. Zehn Tage, nachdem die Idee geboren worden war, wurde bereits der erste Prototyp fertiggestellt. Schreinermeister Matt ist für die Herstellung verantwortlich, die Tochter für den Namen und das Logo, die Söhne helfen beim Transport und Aufbau – und der Bruder als Heimleiter freut sich über die Erfindung. Der erste Einsatz fand kurz vor Ostern statt, um die Mutter und Grossmutter im Pflegeheim trotz Besuchsverbot besuchen zu können. Die familiäre Not machte also mit Erfolg erfinderisch. Zwar wurde das Besuchsverbot in Bayern ab dem 9. Mai und in Baden-Württemberg ab dem 18. Mai wieder gelockert, die gängigen Hygienemassnahmen sind nach wie vor einzuhalten. Das Risiko ist damit zwar gemindert. Risikofrei bleiben Besuche hingegen im angedockten Häuschen aus Bad Säckingen.
Text: Mark Kammerbauer