Die 1,5-Meter-Gesellschaft ist die neue Normalität
NXT A: Jacob van Rijs, Ihr Büro hat auf Instagram gepostet: „MVRDV bleibt motiviert, wertvoll, zuverlässig, engagiert und vielseitig“. Wie können wir jetzt architektonische Fähigkeiten nutzen, um das Corona-Virus zu bekämpfen? Und wie setzen Sie hier Ihre Kompetenz ein?
Jacob van Rijs: Wir haben das gepostet, weil wir sehr stolz darauf sind, wie unser Team mit dem Lockdown umgegangen ist. Die Kommunikationstools in den Besprechungsräumen in unserem Büro konnten wir eigentlich nie lösen und plötzlich arbeiten wir alle innerhalb von zwei Tagen von Zuhause aus. Jetzt haben wir auf einmal alle möglichen Kanäle, um uns zu treffen und Projekte zu besprechen – formell und informell. Es ist unglaublich, welche Power Not hervorbringt. Die unmittelbarste Antwort in Bezug auf die Architektur ist der neue Maßstab, die 1,5-Meter-Gesellschaft. Wir haben einen Kapazitätsplan für unser Büro erstellt. Es läuft nach dem Lockdown mit einer Kapazität von etwa 50 Prozent: Die Teams werden vor Ort sein, die zum Beispiel direkter kommunizieren. In größerem Maßstab arbeitet unser MVRDV-Next-Team an einer Kapazitätsstudie für die Stadt. Wir analysieren, inwieweit wir Bürgersteige, Geschäfte, Büros, Parks und Straßen aktuell nutzen können. Wenn wir wissen, wie groß die Kapazität der Stadt ist, dann wissen wir auch, wie viele Menschen in den Büros arbeiten können. Stellen Sie sich vor, die Kapazität läge bei 50 Prozent wie in unserem Büro, dann haben wir eine klare Leitlinie, wie sich das Leben in der Stadt verändert.
NXT A: Welche Chancen bietet die Pandemie für unsere zukünftige Gesellschaft?
Jacob van Rijs: Was wir daraus lernen können, ist Effizienz. Wir müssen nicht die ganze Zeit in den Büros sein. Wir brauchen nicht so viel Verkehr. Wir müssen nicht so viel reisen – und anscheinend können wir viel weniger einkaufen. All dies wird die Art und Weise verändern, wie wir unseren Raum nutzen. Ein weiterer Effekt sind Umweltverbesserungen. Wir haben in den Niederlanden zum Beispiel eine ziemlich schlechte Luftqualität; sie hat sich während des Lockdowns dramatisch verbessert. Vielleicht ist es utopisch, aber ich hoffe, dass wir endlich erkennen, dass unser Wirtschaftssystem nicht nachhaltig ist.
Und ich hoffe, dass die Krise genutzt wird, um den Green Deal zu beschleunigen, dass wir tatsächlich weniger Autos und mehr öffentliche Verkehrsmittel benutzen und dass wir mit nachhaltigeren Materialien bauen. Jetzt, wo wir sehen, wie sehr sich unser Lebensstil auf die Umwelt auswirkt, ist es nicht eben kein Thema mehr, über das wir in der Zeitung lesen – es ist real, und für uns alle erlebbar. Außerdem erleben wir während des Lockdowns auch, wie wichtig das Thema Wohnen ist. Die Selbstisolation ist zu einem sozialen Problem geworden: Für die Mittelschicht mit einem komfortablen Haus und Garten ist sie viel machbarer als für eine Arbeiterfamilie in einer schlecht gestalteten und vollgestopften Sozialwohnung.
Das Interview führte Theresa Ramisch.