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Sustainability
19. Oktober 2022

“Design for zero”. 5 Punkte und die Frage: Welche Moral liegt in der Bautechnik?

„No business, no profession, no gladiator ever had the intrinsic right to exist in perpetuity.“ – Veränderung ist part of the game!

Im Oktober letzten Jahres erschien ein Buch über nachhaltiges Design im Bauprozess: Design for zero. Es geht darum, die für das Erstellen und Betreiben eines Bauwerks notwendige Emission von Kohlenstoffdioxid (z.B. bei der Betonherstellung und dem Energiebedarf des fertigen Gebäudes) zu reduzieren, bis hin zur “schwarzen Null”. Es geht aber auch und besonders um Moral und Verantwortung. Herausgegeben wurde der Ratgeber, im Übrigen peer reviewed, aber nicht von Architekt:innen oder Designer:innen, auch nicht von Aktivist:innen, sondern von der Institution for Structural Engineers, also der londonstämmigen Berufsorganisation für konstruktiven Ingenieurbau.

Wie bauen wir ab sofort? Photo: unsplash /Breno Assis Unsplash

(Neu-)Definition einer Branche

Diese Publikation richtet sich primär an Bauingenieur:innen und klärt bereits im Vorwort die (neuen) Verhältnisse. So wie Architekturschaffende für gewöhnlich über sich sprechen und sich im öffentlichen wie fachlichen Diskurs positionieren, tun es ihnen diese Autor:innen gleich: Sie sprechen nicht von isolierten, fachlich-technischen Ansprüchen, sondern rücken die Verantwortung des Handelns und des geschaffenen Produkts in Beziehung zu sozioökonomischen und ökologischen Implikationen, also den Auswüchsen und Auswirkung des eigenen Tuns.

Moralische Autorität

Höchst politisch und höchst persönlich wird eindrücklich erklärt, dass sich die Branche eine Verantwortung nicht nur für gutes Bauen, sondern auch für die Gesellschaft und sich selbst zugesteht bzw. längst zugestehen muss. Da ist die Rede vom „Manifesto for Change“, es wird Kritik geübt weit über die rein wissenschaftlich-technischen Grenzen hinaus. Das Unterfangen der Disziplin wird in großformatigen Kontext gestellt: „Ruling classes lost their moral authority.“ diagnostiziert Chris Wise, selbst Bauingenieur und Senior Director der Expedition Engineering. Welche Imperative die Autor:innen in der Publikation für das Bauen gefunden haben, umschreibt er wie folgt:

„They tackle the state of our world in the spirit of moral imperatives: Build Nothing; Build Less; Build Clever; Build Efficiently. […] Engineering is a political act.“

Verantwortung von wem?

Anders als im DACH-Raum werden Bauingenieur:innen, Statiker:innen und Co gerne als Dienstleister:innen für Architekturvorhaben, nicht aber als souverän und schon gar nicht erst als moralisch handelnde Personen im Bauprozess gesehen. Zur Verantwortung über das Bauvorhaben und seiner ästhetischen Gebärde abseits technischer Normen werden Architekt:innen herangezogen; ihre Profession wird mit einer intrinsischen, persönlichen Leidenschaft zur aktiven Gestaltung der Umwelt gleichgesetzt und diesem Gedanken folgend macht es auch Sinn, die sozialen bzw. gesellschaftlichen Implikationen eines Werks von ihnen berücksichtigt zu wissen –– und sie gegebenenfalls für Missstände zu kritisieren.

Hier aber wird das Fach der Bautechnik in Konnex einer zukunftsfitten und klimafreundlichen bis klimaneutralen Praxis gestellt. Und das ist insofern gut, als dass zur Architekturarbeit eben mehr gehört, als nur ein „Design“ zu entwerfen. Im Bauprozess greifen viele Zahnräder in Form von Meinungen, Normen, Vorgaben, Wünschen und Gesetzen ineinander. Der Entwurf, egal ob bodenständig oder waghalsig, ob Brücke oder Bauwerk, muss sich den kritischen Blicken unterschiedlichster Professionen stellen, um nach dem Entstehungsprozess im Idealfall als eine „homogene“ Sache, ein in sich schlüssiges Objekt zu gelten.

„Tue Gutes!“

Bereits das Vorwort der gesamten Publikation von “Design for zero” ist es wert, gelesen zu werden und generiert eine Vorfreude auf den positiven und konstruktiven Zugang des gesamten Buchs. Es ist ein Zeitzeuge einer Reflexion des technischen Berufsstandes aus ebenjenem selbst heraus, die als Konsequenz eine moralische Maxime enthält. Statt den Hippokratischen Eid als „do no harm“ („richte keinen Schaden an“) zu artikulieren, solle man ihn besser als „do good“ (also „tue Gutes“) interpretieren, heißt es da zum Beispiel. Das ist im Gegensatz zur passiven Schadensvermeidung eine Zuwendung hin zu einer aktiven Entschlossenheit. Damit einher geht ein Bekenntnis zur Wahlfreiheit selbst: Die Art zu arbeiten ist eine bewusste Entscheidung, für die man die Verantwortung übernehmen muss.

Neben einer einleitenden Liste an definierten Begriffen für den weiteren Diskurs, zur Vereinheitlichung und Objektivierbarkeit des Themas, findet sich auch eine kurze, aber deshalb umso interessantere Liste von Dingen, die wir jetzt sofort in unserem Verhalten im Berufsalltag ändern können.

Diese Liste ist mehr als nur eine Auflistung von Entscheidungen, die man treffen kann oder nicht; sie ist viel mehr eine Aufforderung zum Umdenken und zur Neuorientierung unseres Verhaltens und unserer Prioritäten.

Aber das, was so einfach klingt, ist in Wahrheit ein Symptom unserer krisengeplagten Gesellschaft: Veränderungen und Adaptierung von Verhalten wurden immer schwieriger, je globalisierter unser Alltag und unsere persönliche Vernetzung wurde. Während der Mainstream der Industrie und ihre Big Player sich noch immer mehr oder weniger zieren und auf das tote Pferd der Beständigkeit setzen, wissen sehr viele Schlüsselpersonen bereits, worauf es jetzt ankommt: Auf eine sofortige Änderung unseres Denkens (und infolgedessen auch unseres Handelns natürlich).

Die Wahl einer klimabewussten Praxis

Und diese Liste präsentiert diese wichtige, essenzielle und zukunftsentscheidende Tatsache als etwas Wunderbares — nämlich als einen Akt der Wahl. Darauf kommt es an: Dass wir ein anderes Verhalten wählen als bisher. Als Statiker:innen, aber und besonders auch Architekt:innen und sonstige Planer:innen, können wir wählen. Diese Wahl ist eine Auswirkung vom Lesen eines Texts, von der Empathie einem gewissen Thema gegenüber, dem Verstehen der Dringlichkeit und vor allem dem Verstehen der Signifikanz des eigenen Tuns, sie hat aber auch wiederum Auswirkungen auf unser weiteres Denken.

5 Punkte zu einer anderen Zukunft

„5 positive actions to take today“ lautet die Überschrift (den Link dazu findet ihr am Ende des Texts) – fünf Handlungen, die wir sofort und heute setzen können. Diese Handlungen betreffen nicht unser eigenes Tun, sondern das Tun in Verbindung mit der täglichen beruflichen Praxis. Vor allen Dingen aber fordern sie zu einer fundamentalen Änderung und Neuausrichtung unseres Denkens auf:

Punkt 1: Der Verbrauch von Kohlenstoff hat denselben Stellenwert wie Sicherheit in den Berechnungen; übernimm die Verantwortung dafür.

Punkt 2: Hinterfrage und prüfe jeden neuen Auftrag hinsichtlich seiner tatsächlichen Notwendigkeit.

Punkt 3: Verlängere die Nutzungsdauer bestehender Strukturen und vermeide Abriss.

Punkt 4: Gehe von der Wiederverwertung der bestehenden Materialien als Designgrundlage aus und lasse andere an deinen Erkenntnissen teilhaben, indem du die Dokumentation zugänglich machst.

Punkt 5: Entscheide dich bewusst für die Kohlenstoff-ärmsten Materialien und gib dich nicht der Illusion von vermeintlich klimakompensierenden Maßnahmen hin.

Das Buch “Design for zero”  selbst ist in drei Sektionen unterteilt: Die erste geht den Grundlagen des Problems nach, wo Kohlenstoff emittiert wird, die zweite behandelt praktische Fallbeispiele und die dritte gibt Tipps, diese Ansprüche in der Praxis durchzusetzen und wie jede:r einzelne dazu beitragen kann.

Wir alle lieben schließlich eine gute Herausforderungen, oder?

Diese hier ist entscheidend für unser Leben und das Leben unserer zukünftigen Generationen. Als Architekturschaffende können wir einander die Hände reichen und den Diskurs am Laufen halten darüber, welche Zukunft wir wollen und welche Verantwortung wir dafür übernehmen. Unterstützen wir Bauingenieur:innen bei ihrer Verantwortung und gehen wir diese „einfachen“ fünf Punkte gemeinsam an.

Aktuell wie je. Ein Beispiel

Wie wichtig sie sind, zeigt auch folgendes aktuelles Beispiel: Wohnraum als Grundmenschenrecht zu schaffen, steht auf der Nachhaltigkeitsagenda Englands. Wissenschafter:innen haben jedoch errechnet, dass die durch konventionelles Bauen behobene Wohnungsknappheit in England für derartig viel Kohlenstoffverbrauch und -emission verantwortlich wäre, dass dadurch allein bereits die maximalen Emissionen des Landes bis 2050 aufbrauchten. Es gibt zwar Alternativen, diese haben allerdings mehr politische Hürden zu nehmen denn technische. So sehen die Studienautor:innen folgende Maßnahmen für zielführender: Sanierung bestehender Gebäude, Dezimieren von Zweitwohnsitzen und eine Abkehr vom Kauf von Wohnraum als monetäres Investment, generell das Bauen kleinerer Gebäude.

Besonders der letzte Punkt steht diametral zum Grundsatz, große Bauvorhaben besonders auch für Wohnungen zu forcieren, um so thermische Hülle und Wärmeverluste zu minimieren, während besonders Außenräume in großem Maßstab qualitativ für viele Menschen gestaltet werden können. Das Baumeister-Magazin beschäftigt sich übrigens genau mit diesem Thema in seiner August-Ausgabe des Jahres 2022.

Indem wir unsere Arbeits- und vor allem Denkweise ab sofort ändern, können wir die Kohlenstoffemissionen durch eine schonende Bauweise in der Herstellung des Bauwerks und des laufenden Betriebs minimieren. Das Buch “Design for zero” ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Zukünftig wird es auch gänzlich neue Baustoffe brauchen, um auf die grüne Null zu kommen und dennoch weiter bauen zu können.

Auch darüber wollen wir berichten!

 

Thematisierte Publikation:

Baldwin, L./Woodward, L.: Design for zero (The Institution for Structural Engineers, London 2021, ca. 150 Seiten)

Weiterführende Lektüren u.a.:

Baumeister 08/2022: Bauen mit System. Besser groß? (https://www.baumeister.de/bauen-mit-systemen-august-2022/)

Helle, A./Lenherr, B.: Beyond Concrete. Strategien für eine post-fossile Baukultur (Triest Verlag, Zürich 2022, 208 Seiten)

Praktisches Beispiel eines Einfamilienhauses ohne Beton:

https://www.andibreuss.at/projekt/haus-ohne-beton-2020

https://www.derstandard.at/story/2000137873821/

(“Wohngespräch” der Bewohner:innen in der Tageszeitung Der Standard)

Weiterführende Links und Quellen zum „Thema Housing Problem in England“:

https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0921800922002245,

https://www.theguardian.com/environment/2022/aug/23/englands-housing-strategy-would-blow-entire-carbon-budget-says-study

Titelbild: Design for zero Coverbild
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