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Architecture
11. Februar 2021

#architectureout

„Wir sind schon da“, titelte das SZ-Magazin 5/2021. Darin outen sich 185 Schauspieler*innen als lesbisch, schwul, bisexuell, queer, nicht-binär und trans* und fordern mehr Diversität in Theater, Film und Fernsehen. In einem Manifest äußern sie außerdem einen Appell über die Grenzen ihrer Branche hinaus, sie zu unterstützen. Jørg Himmelreich, ehemaliger Chefredakteur der archithese, tut dies und schreibt darüber, wieso mehr Sichtbarkeit von LGBTQ+ auch in der Architekturbranche notwendig ist und welche Erfahrungen er machte

Gesicht(er) zeigen.

Im Magazin der Süddeutschen outeten sich vor wenigen Tagen 185 lesbische, schwule, bisexuelle, queere und trans* Schauspieler*innen. Im SZ-Magazin, das jeweils der Freitags-Ausgabe der Zeitung beiliegt, präsentierten die Schauspieler*innen selbstbewusst ihre Portraits und standen mit ihren Namen für mehr Anerkennung und Diversität in Theater, Film und Fernsehen ein. In einem Manifest fordern sie zudem eine Schauspielkunst, die mehr ermöglicht, darstellt und bedient als den hetero-Mainstream.
Recht so, denn weltweit gehören geschätzt 1,2 Milliarden Menschen der Gruppe der LSBT*QI+ an, was einem Bevölkerungsanteil von 14 Prozent entspricht – die tatsächliche Zahl wird vermutlich noch höher sein. Und obwohl der Entkriminalisierung weltweit in immer mehr Ländern auch die rechtliche Gleichstellung folgt, heisst dies noch lange nicht, dass auch wirklich in allen Bereichen des Lebens für LGBTQI+ Toleranz und Chancengleichheit herrschen. Es ist daher wichtig, danach kontinuierlich in allen Berufsgruppen und Institutionen wie etwa Schulen, Religionsgemeinschaften oder der Armee zu fragen. Und an vielen Orten ist noch Einiges zu tun. Auch in der Disziplin der Architektur gibt es diesbezüglich noch sehr viel Luft nach oben.

 

Diskrepanzen zwischen (bewegten) Bildern und Realität

Dass „klassische Männerberufe und -domänen“ beim Thema Gleichbehandlung von LSBTQI+ hinterherhinken, ist allgemein bekannt und es überrascht daher kaum, dass beispielsweise fast keine Spitzensportler*in sich zu outen trauen. Aber die Medienwelt schien mir bei diesem Thema bereits recht weit, offen und tolerant zu sein. Denn einige Fernsehsender – und später noch um einiges stärker Streaming-Dienste wie Netflix – haben die Zahl queerer Charaktere in den letzten Jahren in ihren Serien und Filmen kontinuierlich erhöht.
War ein Steven Carrington in Denver Clan in den 1980er-Jahren noch ein verkrachter Charakter, der in der Vorstellung der Autor*innen und Produzenten mit seinem „Lifestyle“ nie glücklich werden konnte, sind beispielsweise die lesbische Anissa Pierce, der pansexuelle Ambrose Spellman, die transsexuelle Susie Putnam oder der schwule Wesley Fists heute schlicht cool. Ihre Charaktere sind vielschichtig und ihre sexuelle Präferenz oder Identität (nur noch) Nebensache. Wir gewöhnen uns somit en passant beim uns Unterhalten an die „neue“ sexuelle Vielfalt – die eigentlich normal ist.

Tiefer schürfen

Meine Wahrnehmung bezüglich der Toleranz in den Bereichen Film und Fernsehen gegenüber LSBTQI+ ist jedoch – das habe ich beim Lesen des Magazins gelernt – der Tunnelblick eines optimistischen Zuschauers. Dass es auch in diesem Business noch lange nicht tolerant zugeht, davon erzählt im Magazin der Süddeutschen ein langes Gespräch, das Caroline Emcke und Lara Fritzsche moderiert haben. Auf zwölf Seiten transkribiert berichten die Schauspielenden Jonathan Berlin, Eva Meckbach, Tucké Royale, Karin Hanczewski, Godehard Giese und Mehmet Atesçi von Missständen und Diskriminierungen: „In Hollywood ist es – bis auf wenige Ausnahmen wie Jodie Foster und Rupert Everett – immer noch ausgeschlossen, die eigene Homosexualität zu zeigen. Auch in Deutschland gibt es nur wenige Schauspieler*innen, die ihr queeres Begehren öffentlich leben.“

Rollenidentität (un)gleich Biografie?

Dabei zeigt sich ein Dilemma: Die Schauspielenden wünschen sich in ihrem Berufsumfeld akzeptiert zu sein. Sie möchten überall offen mit ihrer Sexualität umgehen können und dafür am liebsten gar keine Reaktionen erhalten. Die Kollegen sollen es einfach „normal“, unspektakulär und eigentlich egal finden.
Zugleich wünschen sie sich im Gespräch aber auch, vermehrt die queeren Rollen spielen zu dürfen, auch um ganz schlicht ihre Beschäftigungschancen zu erhöhen. Gleichzeitig wollen die queeren Schauspielenden aber nicht auf ihre Sexualität reduziert werden. Die in der Branche verbreitete Unart, aus den „realen“ Persönlichkeiten und Biografien auf die Fähigkeit bestimmte Rollen glaubhaft zu spielen, wollen sie eben auch überwinden. Kurzum, es geht den Akteuren um «ein anderes Klima» in der Kunst.

Wo steht die Architektur?

Als schwuler Mann warte ich seit Jahren auf vergleichbare Initiativen in den Bereichen Sport, Politik und Wirtschaft und – weil ich selber (auch) Architekt bin – vor allem in der Architektur. Denn in dieser Disziplin – so meine persönliche subjektive Wahrnehmung im Bekanntenkreis – arbeiten überdurchschnittlich viele queere Gestalter*innen. Doch in den Chefetagen und bei den Professuren ist ihr Anteil erstaunlich gering – oder sie sind da, verstecken aber ihre Sexualität vor der Öffentlichkeit? Wenn ja, warum ist das (noch immer) so? Warum outen sich LGBTQI+ in der Architektur nach wie vor nur zögerlich in ihrem Berufsumfeld? Schliesslich rühmt sich die Disziplin – zumindest, wenn man den von den Hochschulen bestimmten Diskurs liest – meist als liberal und weltoffen. Offensichtlich herrscht dann aber doch kein Klima, in dem man sich unbekümmert als queer zu erkennen geben kann und schon gar nicht in einer breiteren Öffentlichkeit exponieren würde.
Doch das sind nur „gefühlte Fakten“, denn bis heute hat ausser dem Architects’ Journal gar niemand überhaupt erst versucht, Zahlen zur Situation der LSBT*QI+ in der Architektur zu ermitteln.
Das Schweizer Bundesamt für Statistik erhebt über queerer Arbeitnehmende keine Zahlen und auch die beiden großen Schweizer Architekt*innenverbände interessieren sich nicht für das Thema. Das allein spricht Bände. Die Bedürfnisse und Schwierigkeiten, denen LSBT*QI+ jeden Tag aufs Neue ausgesetzt sind, bleiben daher unsichtbar. In der Studie des Architects’ Journal gaben aber 85 Prozent der Befragten an, im letzten Jahr am Arbeitsplatz Homophobie begegnet zu sein.

Reden und schreiben

Es ist höchste Zeit das Schweigen (auch) in der Architektur zu durchbrechen und das Klima in der Disziplin hin zu einer toleranteren und inklusiveren Atmosphäre zu verändern. Gemeinsam mit dem Team der Schriftenreihe zu Architekturtheorie archithese durfte ich im Sommer des letzten Jahres mit dem Heft Queer einen Beitrag dazu leisten. Ziel war es, mit dem Themenheft nicht nur dafür zu werben, bestehende Hindernisse und Diskriminierungen von LSBTQI+ zu reduzieren. Es ging auch darum, das kreative Potenzial dieser Gruppe zur Wirkung zu bringen. Denn nur wer frei ist und sich frei fühlt, kann sich auch gestalterisch voll entfalten. Und – so unsere Behauptung – in den queeren Geistern schlummern grosse gestalterische Potenziale. Und in einer bedrohlichen Zeit von Klimawandel und massivem Artensterben ist es mehr denn je wichtig out off the box zu denken. Und dazu könnten – davon bin ich überzeugt – queere Gestalter*innen einen grossen Beitrag leisten.

Angst vor Ablehnung

«Ich hätte mir als junger Heranwachsender auch Verbündete gewünscht», sagt Mehmet Ateșçi im Interview in der Süddeutschen. Insbesondere junge queere Menschen brauchen Role models, die ihnen zeigen, dass es möglich ist, sich im Berufsumfeld zu outen und damit den Beweis führen, dass dies nicht gleichbedeutend damit ist, auf eine Karriere in der Architektur verzichten zu müssen.
Wie grossartig wäre es daher gewesen, wenn auch archithese ihr Heft – ähnlich wie das Magazin der Süddeutschen – mit den Portraits einer Gruppe von 100 oder mehr queeren Architekt*innen hätte eröffnen können, die sich getraut hätten, selbstbewusst in die Öffentlichkeit zu treten? Wir ahnten aber bereits, als wir mit dem Projekt gestartet sind, dass es kaum möglich sein würde, in den Wochen, die uns zur Vorbereitung zur Verfügung standen, eine grössere Gruppe von LSBTQI+-Architekturschaffenden zu finden, die bereit sein würden, sich zu exponieren. Dennoch recherchierten wir aber nach Kandidat*innen für ein Gruppengespräch, das – ganz ähnlich dem im Magazin – in der Queer-Ausgabe hätte abgedruckt werden sollen. Die Suche nach ihnen gestaltete sich jedoch zäh. Wir identifizierten etwa zwei Dutzend queere Architekt*innen, die Büros leiten oder Professuren halten. Lesbische Büroleiterinnen zu finden war dabei besonders schwierig und bei den trans* fanden wir gerade eine Person. Wen wir ansprachen, unterstützte unser Anliegen. Aber im Heft äußern, das wollten sich nur wenige.

Undoing Architecture

Doch mit grosser Freude stellten wir innerhalb der Redaktion fest, dass – je länger wir am Heft arbeiteten und umso mehr Gespräche wir führten – die Bereitschaft wuchs sich zu exponieren. Als wir nach Erscheinen des Heftes für den Sommer eine Serie von Symposien zum Thema in Basel, Wien und Berlin planten, konnten wir immer mehr LSBTQI+-Architekturschaffende überzeugen, dabei zu sein. Hätte uns der Corona-Virus nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht, hätten diese Events sicher geholfen, das Thema in weitere Kreise zu tragen. Immerhin den Event in Basel konnten wir durchführen. Wer mag, kann das Heft im Web-Shop der archithese bestellen und fünf Videos vom Symposium auf YouTube schauen.
«Unsere Gesellschaft ist längst bereit. […] Unsere Branche soll für ein Miteinander stehen und in ihrer Vielfältigkeit die Gesellschaft abbilden», schreiben die Schauspielenden in ihrem Manifest im Magazin. Ich stimme zu und finde, man könnte – oder noch besser gesagt – sollte das eins zu eins auch für die Architektur fordern. Umso mehr, als sich die Disziplin verstärkt nicht mehr nur als Gestalter*in der physischen Umwelt begreift, sondern auch als Moderator*in gesellschaftlicher, sozialer oder gar ökonomischer Prozesse. Ich kann kaum abwarten, unter einem Hashtag wie #architectureout die Gesichter von 184 mutigen LSBTQI+Gestalter*innen vom Cover einer Zeitschrift lächeln zu sehen.

Über den Autor

Jørg Himmelreich ist Architekt, Historiker und Kunst- und Designwissenschaftler. Er studierte in Wuppertal und Zürich. Fünf Jahre lang lehrte er Design am Departement für Architektur der ETH Zürich. Er ist Autor von Büchern und schrieb zahlreiche Artikel für Architekturzeitschriften mit dem Schwerpunkt Geschichte und Theorie der Architektur. Er war Redakteur bei Hochparterre und Chefredakteur bei den Zeitschriften trans und der Schriftenreihe und Plattform für Architektur und -theorie archithese in Zürich.

„Wir sind schon da“, titelte das SZ Magazin 5/2021. Darin outen sich 185 Schauspieler*innen als lesbisch, schwul, bisexuell, queer, nicht-binär und trans*.
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